Sie ging mit freudiger Erwartung Richtung Busparkplatz. Das erste Mal seit Monaten fühlte sie sich nicht erfüllt von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Sie nahm die Vorfreude und positive Aufregung der Kinder wahr und spürte, wie eigene Freude in ihr wuchs. Die Kinder wussten nicht, was auf dem Spiel stand. Sie waren einfach freudig erregt und das war auch gut so. „Wie schön das Leben sein kann, wenn man sich einfach freuen kann“, dachte sie kurz und ein Lächeln huschte über ihre Seele. Sie spürte, wie dieses Gefühl auch ein Lächeln in ihr Gesicht zauberte. Sie hoffte darauf, dies wieder dauerhaft erleben zu können.
Neben ihr lief ihr Mann. Wie so oft wirkte er innerlich eher abwesend, auch wenn er sich äußerlich aufgesetzt fröhlich gab. Er trug, genau wie sie, einen Rucksack von einem der Kinder und einen Schlafsack. Die Kinder sollten gleich mit einer Jugendgruppe vierzehn Tage in ein Jugendlager fahren. Das erste Mal, seit der Geburt der Kinder, würde das Paar eine kinderfreie Zeit erleben. Die letzten Jahre waren nicht immer einfach. Erst recht nicht die letzten Monate. Er hatte sich anderweitig verliebt. Er hatte diese Frau im Internet kennen gelernt und sie lebte leider weit weg in Mannheim. Nun suchte er einen Weg, seine neue Liebe zu leben.
Die Kinder konnten gar nicht erwarten, bis der Bus endlich losfuhr. Der Abschied fiel ihnen nicht schwer. Ihre Mutter verabschiedete sie auch gerne. Wusste sie doch, dass es den Kindern sehr gut gehen würde. Wie es mit ihr und ihrem Mann weitergehen würde, wusste sie hingegen nicht.
Seit sie von den vierzehn möglichen kinderlosen Tagen wusste, wuchsen aber ihre Erwartungen an diese Zeit. Es erwachte ein unendliches Gefühl der Hoffnung. Sie wünschte sich aus tiefem Herzen, dass diese Zeit die Chance sein würde, die sie als Paar brauchten. Sie erwartete ehrliche Aussprache, ein sich wieder näherkommen, vielleicht sogar Zweisamkeit, die sie wieder zusammenwachsen ließ. All ihre Enttäuschungen, all ihre Ängste und ihre Ohnmachtsgefühle konnten durch diese Emotionen gänzlich beiseitegeschoben werden. So war wieder Platz für liebevolle Gefühle. Sie war fest entschlossen, ihre Ehe, ihre Familie zu retten!
Schweigend ging das Paar zurück zum Haus. Sie wusste nicht, wie sie die hoffnungsvolle Zeit einläuten konnte, also schwieg sie lieber. Im Haus setzte sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa. Er verschwand im Schlafzimmer. Es verging ein kurzer Moment, in welchem sie kurz rätselte, was er wohl gerade machte. Bevor sie jedoch näher darüber nachdenken konnte, stand er mit einer gepackten Tasche in der Wohnzimmertür. Er ließ die Tasche fallen und verkündete: „Ich fahre jetzt nach Mannheim!“
Die Worte schlugen wie ein zerstörerischer Torpedo in ihre Seele ein. Alle Hoffnung zerbarst, alle freudige Erwartung zerstob zu Staub, Enttäuschung legte sich wie eine Klammer um ihre Seele. Diesem Druck konnte sie nicht standhalten – sie implodierte. Bevor der überwältigende Schmerz wahrnehmbar wurde, wurde ihr Gehirn von einer ganzen Kaskade von Hormonen überflutet. Sie spürte gar nichts mehr, saß reglos da, starr vor Entsetzen, emotional abgestorben.
Er sah ihre Reglosigkeit und dachte nur: „Sie zeigt keine Reaktion! Also kann ich gehen.“ Bestärkt in seinem Vorhaben nahm er seine Tasche und ging.